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Genuss und Risiko oder warum Genuss eine präventive Wirkung hat

Ausgabe Nr. 103
Mär. 2014
Genuss und Risiko

Genussfähigkeit als Suchtpräven­tion. Die Genussfähigkeit ist Voraussetzung für ein erfülltes Leben. Zu erkennen, wo der Genuss gefährliche Dimensionen annimmt, schützt das Individuum und die Gesellschaft vor den negativen Folgen. Dafür brauchen die einzelnen Menschen Genusskompetenz und die Gemeinschaft Regeln, welche der individuellen Freiheit dort Grenzen setzen, wo das Wohl der Gemeinschaft leidet.

Das Wort Genuss löst in uns in der Regel positiv besetzte Assoziationen aus, und jeder Mensch hat eine ganz persönliche Vorstellung davon, was Genuss ist. Der Genüsse sind viele, aber allen Genüssen ist gemein, dass sie im Hirn das limbische System, das sogenannte Belohnungssystem, stimulieren. Dabei werden Hormone ausgeschüttet, die uns ein Wohlgefühl vermitteln und uns motivieren, die Handlung, die zu diesem Wohlgefühl führte, zu wiederholen.
Wenn wir versuchen, uns ein Leben ohne solche Wohlgefühle vorzustellen, dann wird schnell klar, dass diese Wohlgefühle oder eben, die Genussfähigkeit, unabdingbar für ein erfülltes Leben sind. Allerdings hat sich das limbische System in einer Zeit entwickelt, die im Vergleich zu heute nur wenige Genüsse bot und zudem von Mangel geprägt war. Negative Auswirkungen überbordenden Genussstrebens waren somit kaum zu befürchten.

Früher Mangel, heute Überfluss
War die Frühzeit von Mangel geprägt, macht uns in der Neuzeit eher der Überfluss zu schaffen, und zwar nicht nur in Form eines Überflusses an Nahrung, sondern vieler anderer Reize, die uns Genuss versprechen, aber eben auch mit Risiken verbunden sind. Zumindest in den Ländern der Ersten Welt ist heute alles Nötige und auch das Unnötige jederzeit verfügbar. Wenn nun ein vom Streben nach Wohlgefühl geleitetes Wesen in einer Welt bestehen muss, die diesem Streben nicht durch Mangel natürliche Grenzen setzt, ist es nicht erstaunlich, wenn daraus Probleme entstehen. Der Mensch ist Kraft seiner kognitiven Fähigkeiten, die ihren Sitz im entwicklungsgeschichtlich sehr jungen Cortex haben, grundsätzlich in der Lage, zu erkennen, dass allzu viel Genuss ungesund ist. Leider steht diese Erkenntnis im Widerstreit mit anders gerichteten Verhaltensmustern, die über Hunderttausende von Jahren und unter gänzlich anderen Umweltbedingungen geprägt worden waren.

Man könnte also, wenn auch stark vereinfachend, sagen, dass im Hirn des Menschen sozusagen ein dauerhafter Kampf tobt zwischen dem limbischen System, das in gewisser Weise auf Genuss ausgerichtet ist, und dem corticalen System, das diesem Genussstreben Grenzen setzen will, weil es gelernt hat, dass Masslosigkeit mit grossen Risiken und entsprechenden negativen Folgen verbunden ist.

Dieser Kampf beschäftigt die Menschheit allerdings nicht erst, seit die bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften uns eine sichtbare Vorstellung davon vermitteln, wie unser Gehirn funktioniert, wie ein kleiner Exkurs in die griechische Philosophie zeigt.

Schon bei Epikur finden sich Worte, die zeigen, dass Genussstreben für ein erfülltes Leben sehr wichtig ist, aber auch grosse Risiken birgt: «Keine Freude ist an sich ein Übel; doch das, was gewisse Freuden erzeugt, bringt vielerlei Beschwerden mit sich, die die Freuden um das Vielfache übersteigen.» Epikur empfiehlt deshalb auch, seine Begierden stets zu hinterfragen: «Was wird mir geschehen, wenn erfüllt wird, was ich begehre, und was, wenn es nicht erfüllt wird?» Diese beiden Zitate aus dem dritten Jahrhundert vor Christus enthalten alles, was auch moderne Prävention ausmacht. Einerseits findet sich darin eine positive Einstellung dazu, das Leben mit all seinen Sinnen zu genies­sen, und andererseits das Bewusstsein, dass dem Genussstreben wegen der damit verbundenen Risiken auch Grenzen gesetzt werden muss.

Individuelle Bedürfnisse und Spielregeln der Gemeinschaft
Somit geht es darum, dass die Gesellschaft als Ganzes und ihre einzelnen Mitglieder einen selbstverantwortlichen, das heisst risikoarmen Umgang mit den Genüssen dieser Welt erlernen, dass sie also geniessen können, ohne deshalb in gesundheitliche, soziale oder wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten.
Das Dumme ist nur, dass dieser Lernprozess uns zwangsläufig auch mit der Frage konfrontiert, ob und in welchem Masse dazu auch Eingriffe in die persönliche und individuelle Freiheit erforderlich und berechtigt sind.

Die sehr lebendige gesellschaftliche Debatte um die Frage, wie weit es dem Einzelnen gestattet sein soll, sein individuelles Genussstreben auch auf Kosten der Gesellschaft auszukosten bzw. ab wann und wie diesem Streben mit präventiven oder repressiven Massnahmen zu begegnen ist, zeigt, dass dieser Frage offenbar zentrale Bedeutung zukommt.

Eine moderne Prävention darf sich deshalb nicht darin erschöpfen, vor Gefahren zu warnen und mit Sanktionen zu drohen, sondern sie muss darauf ausgerichtet sein, die Menschen zu einem kompetenten Umgang mit dem reichen Angebot an Genüssen und den damit verbundenen Risiken zu befähigen. Mit anderen Worten: Es geht darum, die Genussfähigkeit zu fördern. Das gilt nicht nur für den Einzelnen; vielmehr muss sich auch die Gesellschaft als Ganzes mit der Frage auseinandersetzen, welche Rahmenbedingungen die Genussfähigkeit fördern, ohne die Gesellschaft über Gebühr zu belasten.

Dazu braucht es vertieftes Wissen um die positiven und negativen Seiten der verschiedenen Genüsse. Eine weitere unabdingbare Voraussetzung für Genussfähigkeit ist Selbstkontrolle, das heisst. dass wir nicht nur lernen, wo unsere Grenzen sind, sondern dass wir auch in der Lage sind, diese einzuhalten.

Selbstkontrolle und Rahmenbedingungen
Selbstkontrolle ist zwar wichtig und ihre Förderung ein zentrales Anliegen der Verhaltensprävention, aber wir tun gut daran, auch das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass der Selbstkontrolle Grenzen gesetzt sind. Wer von uns kennt nicht Situationen, in denen er einfach nicht widerstehen kann? In der Regel ist das auch gar kein Problem oder kann sogar mit Genuss verbunden sein, aber das ändert nichts daran, dass wir nur bis zu einem bestimmten Grad in der Lage sind, unsere Impulse zu kontrollieren.

Das Bewusstsein von der Begrenztheit der Selbstkontrolle kann uns lehren, Situationen zu meiden, in denen wir erfahrungsgemäss nicht widerstehen können. Es kann uns aber auch zum Schluss führen, dass wir als Einzelne überfordert sind und es unter bestimmten Umständen gut sein könnte, die Rahmenbedingungen so zu ändern, dass gewisse Situationen gar nicht mehr oder zumindest weniger häufig entstehen. Als Gesellschaft müssen wir also Rahmenbedingungen schaffen, die eine gesündere Wahl erleichtern.

Einschränkungen der persönlichen Freiheit in Bezug auf den Genuss dürfen in einer freiheitlichen Gesellschaft jedoch nie Selbstzweck sein, sondern sollten immer dem Ziel dienen, die Voraussetzungen für ein genusserfülltes Leben zu verbessern. Wenn uns das gelingt, dann leisten wir damit einen wichtigen Beitrag zur öffentliche Gesundheit, denn genussfähige Menschen leben gesünder.

Kontakt

Markus Jann, Leiter Sektion Drogen, markus.jann@bag.admin.ch

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